Wie gelingt es manchen Familien trotz widriger Verhältnisse, eine angenehme Atmosphäre auszustrahlen, während andere von permanenten Hagelstürmen heimgesucht werden? Die Familientherapeutin Helga Kernstock-Redl verrät im Gespräch, wie zufriedene Familien eine gute „Großwetterlage“ herstellen, und warum es dennoch passieren kann, dass sich „schwarze Löcher“ zwischen Partnern auftun.
Frau Kernstock-Redl, wie entsteht das für eine Familie typische Klima bzw. die emotionale Atmosphäre, die eine Familie prägt?
Helga Kernstock-Redl: Wer viel mit unterschiedlichen Gruppen und Teams zu tun hat, der weiß: Jeder Mensch, der dazu kommt oder weggeht, wird die jeweilige Atmosphäre verändern: verstärken, umdrehen, … Jede Person ist einzigartig und lässt andere Seiten in den jeweiligen Kommunikationspartnern in den Vordergrund treten und erschafft damit individuelle Beziehungsmuster. In Familien oder Paaren ist das ganz genau so: Zwei einzigartige Menschen kommen zusammen, erschaffen zwischen sich eine spezielle Situation und damit die Beziehung. Kommt ein Kind dazu oder gibt es eine Veränderung in der Herkunftsfamilie, dann wird sich selbstverständlich wieder etwas verändern. Es kann also gar nicht zwei gleiche Familien geben. Was man jedoch miteinander vergleichen kann, sind Teile des Ganzen, also typische Muster und Gewohnheiten, die in bestimmen Lebensphasen oder Krisen entstehen.
Was macht ein gutes Familienklima aus?
Ein gutes Klima ist geprägt von einem freundlich-interessierten Umgang miteinander als „Großwetterlage“. In einem schlechten Klima herrscht emotional übles Wetter an den meisten Tagen des Jahres: Gleichgültigkeit, Angst, Ärger, es regnet Klagen oder hagelt Kritik. Wichtig ist immer das grundsätzliche Klima, nicht das eine Gewitter im Jahr oder der supertolle Sonnenschein an einem einzelnen Tag. Ein Beispiel: Der Sohn kommt nach Hause, sperrt die Wohnungstür auf. Freut er sich auf daheim? Glaubt er, dass er auf Freundlichkeit trifft – auch wenn er schlechte Nachrichten mitbringt? Oder muss er damit rechnen, gar nicht oder mit einer Unfreundlichkeit begrüßt zu werden?
Bevor Sie jetzt einfach sagen: „Natürlich sind wir freundlich miteinander. Natürlich wissen meine Familienmitglieder, dass ich sie mag“ überprüfen Sie bitte nochmals selbstkritisch: Woher wissen Sie bzw. die anderen das? Würde man dieses freundlich-interessierte „Ich mag dich“ auch auf einer Videoaufzeichnung sehen, also freundliches Verhalten, Gesichtsausdruck und Stimmlage? Die Absicht allein ist zu wenig.
Wichtig ist immer das grundsätzliche Klima, nicht das eine Gewitter im Jahr oder der supertolle Sonnenschein an einem einzelnen Tag.
Gehört Streiten denn auch zu einer guten „Großwetterlage“?
Nützliches Streiten gehört unbedingt zu einem guten Familienleben dazu. Unterschiedliche Bedürfnisse, Gewohnheiten oder Werteinstellungen sind normal innerhalb einer Familie und verlangen nach einer Lösung: Diese kann ein Mittelweg oder ein Verhandlungsergebnis sein („In diesem Punkt ändere ich mich dir zuliebe und in jenem Punkt machst du das für mich“). Vielleicht muss man Dinge am Partner einfach akzeptieren und kann dafür dieselbe Akzeptanz in einem anderen Bereich für die eigenen Vorlieben fordern. Gutes Klima entsteht nicht durch Vermeiden von Diskussion und Streit, sondern durch Vermeiden von körperlicher oder psychischer Verletzung, also von Gewalt. Eine Familie soll immer eine gewaltfreie Zone sein. Im Notfall ist es besser, eine Runde zu gehen, sich eine Auszeit zu holen oder sich schlimmstenfalls zu trennen!
Wofür lohnt es sich zu streiten?
Langfristig muss die Balance zwischen Geben und Nehmen gewährleistet sein. Wenn man sich ausgenutzt fühlt, dann ist das ein wichtiges Signal, das Gespräch zu suchen. Gut möglich, dass sich dabei herausstellt, dass der Partner genau das gleiche Gefühl hat. Beide haben den Eindruck, sie geben sehr viel in dieser Beziehung, tolerieren viel, aber bekommen zu wenig dafür. Wohin verschwindet all das? Von Zeit zu Zeit scheinen tiefe „schwarze Löcher“ zwischen Menschen zu entstehen. Dann kann es passieren, dass beide Seiten einander ständig etwas geben, aber nichts zurückbekommen. Manchmal saugen externe Probleme als solche „schwarze Löcher“ alle Kraft und Zeit auf, sodass nicht einmal mehr Freundlichkeit Platz hat. In anderen Fällen gibt die eine Person zwar sehr viel, aber nicht das, was die andere möchte: So mancher Mensch wünscht sich Anerkennung, bekommt aber stattdessen nur immer mehr Einkommen, oder jemand will mehr gemeinsame Zeit anstatt teurer Geschenke, vielleicht auch eine stille Umarmung statt gut gemeinter Ratschläge.
Wie kann man aktiv zum guten Klima in der eigenen Familie beitragen?
Es ist ganz wichtig, sich regelmäßig, vielleicht sogar jeden Sonntagabend, zu fragen: „Was geht gut zwischen uns, was ist gelungen? Was davon möchte ich öfters tun oder haben?“ Und einmal im Monat kann Zeit für ein Gewitter eingeplant werden: „Was ärgert mich täglich? Wie kann ich kriegen, was ich brauche? Kann bzw. will mir mein Partner oder mein Kind das geben?“ Ein Beispiel: Ihre Tochter kämpft darum, ihr eigenes Ordnungssystem zu entwickeln und verbreitet dadurch Chaos in der ganzen Wohnung. Lassen Sie es doch in ihrem Jugendzimmer so gut sein, wie sie es möchte. Es liegt in der Verantwortung Ihrer Tochter, dafür Lösungen zu finden. Schließlich kann man die Tür zumachen. Chaos im gemeinsamen Wohnzimmer ist für Sie aber vielleicht nicht tolerierbar, hier können Sie vehement lästig sein, Regeln einfordern, bei Nicht-Beachtung vereinbarte Konsequenzen setzen, gute Ansätze hochloben, und vieles mehr.
Was geschieht, wenn sich Partner zusammentun, die ganz offensichtlich zwei komplett unterschiedliche Familienstile aus ihren Herkunftsfamilien mitbringen? Wer setzt sich durch, wer zieht den Kürzeren?
Es ist immer so, dass sich zwischen zwei oder mehr Menschen sofort etwas ganz Eigenes entwickeln möchte, auch wenn es vielleicht aus bekannten Elementen zusammengesetzt wird. Manchmal wird aber versucht, etwas Altes und Gewohntes, also z.B. die Gestaltung von Weihnachten, den Stil einer Herkunftsfamilie bei finanziellen Entscheidungen oder die Art der Konfliktlösung um jeden Preis zu übernehmen. Doch das bedeutet, eine notwendige und wichtige natürliche Entwicklung verhindern zu wollen! Es kostet nicht nur enorm viel Kraft, sondern geht auf Dauer immer auf Kosten der Beziehung. Besser ist es, ganz bewusst das Beste von beiden Seiten zu übernehmen und noch etwas Eigenes dazu zu geben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Weihnachten: Hier kann und soll jedes junge Paar oder eine neue Familie gut überlegen, was eine möglichst angenehme Gestaltung wäre und dann damit experimentieren. Und wenn es vollkommene Wünsche gibt, dann eben ein Jahr so und das nächste ganz anders.
Am besten ist es, ganz bewusst das Beste von beiden Seiten der Partner zu übernehmen und noch etwas Eigenes dazu zu geben.
Was passiert, wenn nicht nur die Familienstile sehr unterschiedlich sind, sondern auch die Partner von „zwei unterschiedlichen Sternen“ kommen; in anderen Worten, wie viel Unterschiedlichkeit verträgt Beziehung überhaupt?
Jeder Unterschied macht Beziehung spannend, aber auch schwierig: Der Morgenmensch will schließlich manchmal dem Abendmenschen begegnen, wenn beide fit sind; die eher chaotische Person und die ordnungsliebende wollen unter einem Dach leben; der eine hat nie gelernt, über die Innenwelt nachzudenken und Worte dafür zu finden oder hat Gefühlsfragen als bohrend und gefährlich erlebt – immerhin kann alles, was man sagt, im nächsten Streit auch gegen einen verwendet werden. Der andere kann locker über Emotionen reden und will immer genau wissen, was im anderen los ist, findet Schweigen vielleicht sogar extrem bedrohlich …. und vieles mehr. Da braucht es viel Kommunikation und Konfliktlösungsbereitschaft, um einen gemeinsamen Nenner zu finden, ohne dass auf Dauer einer der Beteiligten zu kurz kommt oder sich verbiegen muss. Seien Sie lösungskreativ! Ganz praktisch gesehen kann das bedeuten: Ein Raum gehört dir und deiner Ordnung, der andere mir und meinem Chaos. Heute wie ich will, morgen wie du willst. Ich akzeptiere diese lästige Eigenheit von dir, dafür beklagst du dich nie wieder über diese bestimmte von mir. Jeder behält seine eigene Freizeitgestaltung, aber wir suchen geduldig die eine Sache, die uns beiden ganz viel Freude macht und uns verbindet.
Was kann die Durchschnittsfamilie aus dem Expressed Emotion-Konzept lernen?
Es gibt spannende Forschungsergebnisse, wonach ein Übermaß an Emotionen, viel Kritik und Feindseligkeit extrem schädlich sind, zumindest für psychisch kranke Menschen. Ein solcher Kommunikationsstil wirft meiner Beobachtung jedoch auch die Stärksten und Gesündesten um, gleich ob in Familie oder Arbeit: Ständiges emotionales Drama zermürbt alle, die davon direkt betroffen sind oder es indirekt miterleben müssen.
Ständiges emotionales Drama zermürbt alle. Aber Gefühlsmanagement kann man lernen.
Hysterische oder cholerische Ausbrüche können Beziehungen schwer belasten, denn es reicht schon die Angst vor einem nächsten Mal, um ein vertrauensvolles und offenes Miteinander zu erschweren. Und vollkommen unvereinbar mit einer behaglichen und freundlichen Atmosphäre ist die Gewohnheit, einander so oft wie möglich oder so verletzend wie möglich zu kritisieren. Dazu ist Gefühlsmanagement notwendig. Jeder Mensch kann das lernen. Wenn Sie also heimkommen und Sie sehen, dass Ihre Tochter die vereinbarte „neutrale Zone“ Wohnzimmer mit ihrem Chaos überflutet hat, dann bitte nicht schon in der Tür explodieren und kritisieren. Freuen Sie Sich zuerst einfach sie zu sehen! Es gibt so viele schlimme Dinge auf der Welt, und alle sind wichtiger als Unordnung im Wohnzimmer. Eine halbe Stunde später können Sie dann noch immer die getroffenen Ordnungs-Vereinbarungen zum Thema eines Streitgespräches machen – aber bei allem Ärger so, dass Sie ein paar Jahre später darüber an genau diesem Wohnzimmertisch sitzen und lachen können: „Weiß du noch, damals, unsere ewigen Streitereien um Ordnung … und jetzt, schau uns an …“
Fotocredit: @deinshooting.at