Kinder, die sich schämen werden rot oder wollen im Boden versinken. Sensible Erwachsene spüren schnell um die unangenehme Situation für das Kind und wollen sie möglicherweise – gut gemeint – mit einem raschen „Du musst dich nicht schämen“ beseitigen. Im Gespräch erklärt die auf Kinder spezialisierte klinische und Gesundheitspsychologin Simone Fröch, warum genau das mehr schadet als hilft und wie Eltern gute Vorbilder sein können.
Woran erkennen Sie die Scham bei Kindern, die zu Ihnen in die Praxis kommen?
Viele Kinder senken Augen und Kopf verlegen zu Boden. Manchmal verkriechen sie sich hinter ihrer Mama. Als feinfühlige Beobachterin spürt man, dass sie in so einem Moment am liebsten unsichtbar wären, sich in Luft auflösen oder im Erdboden versinken wollen.
Wird das Gefühl bereits im Vorfeld von den Eltern thematisiert?
Häufig geht es zuerst um ganz andere Themen, denn für Erwachsene ist es oft nicht nachvollziehbar, dass sich die Kinder in der betreffenden Situation schämen. Manchmal wird es gar nicht erkannt. Viele können auch nicht zwischen Scham und Schuld unterscheiden. Sie berichten dann, dass sich das Kind schuldig oder ängstlich fühlt, wenn sie mit ihm schimpfen. Doch eigentlich schämt es sich, weil es sich zum Beispiel abgewertet fühlt.
Kinder schämen sich, wenn sie geschimpft bekommen, sagen Sie. Oft schimpfen Erwachsene jedoch, um das Kind zu schützen oder auch um ihm eine Grenze aufzuzeigen – wie kann hier das richtige Ausmaß, das eben noch nicht beschämend ist, gefunden werden?
„Tu das nicht. Ich kriege Angst. Das ist gefährlich.“ Das sind Sätze, die das Kind nicht abwerten, sogar wenn es in Schreien ausartet. Auch wenn Eltern ihr Kind in Panik anbrüllen, sich dann aber entschuldigen, indem sie sagen: „Das hätte ich nicht so machen sollen. Es tut mir sehr leid“, wird sich das Kind nicht schämen. Wenn sie dem Kind jedoch empört sagen: „Sag mal, bist du eigentlich noch ganz dicht?“ dann kritisieren Sie nicht nur sein Verhalten, sondern werten es als Person ab. Mehr noch als Worte sind es allerdings häufig subtil verächtliche Körpersignale, die Scham erzeugen: Kopfschütteln, Augen verdrehen, Augenbrauen hochziehen, Nase rümpfen, ein spöttischer Tonfall, …
Kinder schämen sich, wenn sie sich als Person abgewertet fühlen. Sei es durch Worte oder durch verächtliche Körpersignale, die Scham erzeugen.
Man liest häufig, dass Scham in der Kindheit eine Art Anpassungsfunktion hat. Was sagen Sie dazu?
Soziale Anpassung geschieht immer über die Vermeidung von Scham. Nehmen wir das konkrete Beispiel eines Kindes: Der 12-jährige Max bereitet sich gut auf sein Referat vor, damit er sich vor den Klassenkameraden und dem Lehrer nicht blamieren muss. Beschämung hat ja mit Entwertung zu tun und gedemütigt zu werden, ist ein äußerst schmerzhaftes Gefühl.
Wer dieses Beispiel hört, denkt sich vielleicht: Gut, aber ein bisschen Scham muss anscheinend sein, um eine Leistung – in diesem Fall das Referat – zu erbringen … stimmt das?
Das ist ein sehr schmaler Grat, den Sie hier ansprechen, und zuviel Scham ist schrecklich: Wenn ein Kind durch die Welt geht und denkt, dass es von allen kritisch angeschaut wird, und dass hinter jeder Ecke jemand lauert, der schlecht über es denkt. Das behindert dann viele wesentliche Aspekte seines Lebens, nämlich das Lernen, die Freude an der Gemeinschaft und den Genuss. Daraus können später möglicherweise Erwachsene werden, die permanent mit Schamgefühlen zu kämpfen haben und deren Angst vor dem Rotwerden, also die Angst vor der Scham, sich bereits so zugespitzt hat, dass sie möglicherweise bereits an einer sogenannten Erythrophobie leiden. Davon spricht man, wenn sich die Scham zu einer krankheitswertigen und behandlungswürdigen Störung entwickelt.
Wie kann man Kindern helfen, die sich schämen?
Bitte sagen Sie Ihrem Kind, das sich gerade schämt, niemals: „Schäm dich nicht!“ Denn dann schämt sich das Kind vielleicht sogar auch noch dafür, dass es sich schämt. Überhaupt ist das Ansprechen in der Situation sehr schwierig, weil es das Schamgefühl verstärken kann.
Sie können dem Kind jedoch schon im Vorfeld sagen: „Wir gehen heute zum Doktor. Er wird dich mit Hilfe eines Stethoskops abhören. Es kann sein, dass es dir ein bisschen unangenehm oder peinlich sein wird. Das ist am Anfang oft so. Aber man gewöhnt sich daran.“ Geben Sie Ihrem Kind das Gefühl, dass es in Ordnung ist, wenn ihm etwas peinlich ist: „Viele Kinder haben das. Das ist normal und richtig.“ Das kann Scham verringern.
Viele Kinder erleben das Gefühl der Scham als besonders quälend, wenn es sich im Kreis von Gleichaltrigen einstellt – Stichwort Mobbing. Wie kann man da als sensibler Elternteil oder anderer aufmerksamer Erwachsener unterstützend eingreifen, wenn man das Gefühl nicht direkt ansprechen soll?
Wenn jemand anderer Ihr Kind beschämt, dann helfen Sie ihm, indem Sie seinen Blick wenden. Und zwar weg von der kritischen Selbstbeobachtung und hin zur kritischen Beobachtung des Anderen. Sprechen Sie also dessen Fehlverhalten bewusst an: „Er hat dich ausgelacht? Das ist nicht okay von ihm.“ Das kann ein Ausweg aus dem unangenehmen Schamgefühl sein.
Es hilft auch, Scham selbst mutig zuzugeben: „Ich trage ein Zahnspange. Das ist mir ein bisschen peinlich, weil ich damit nicht gut reden kann.“
Sagen Sie möglichst viel Gutes über das Kind, während es sich schämt. Ein Kind, das sich beispielsweise gerade dafür schämt dick zu sein, erinnern Sie daran, wie gut es zeichnen und musizieren kann, um so seine Aufmerksamkeit von seinem wunden Punkt auf seine Stärken zu verlagern.
Sagen Sie möglichst viel Gutes über das Kind, während es sich schämt. Lenken Sie seine Aufmerksamkeit von seinem wunden Punkt auf seine Stärken.
Wie entsteht diese Form der kritischen Selbstbeobachtung bei Kindern, die Sie eben angesprochen haben, und die ja auch viele Erwachsene kennen?
Hier würde ich gerne nochmals einen Schritt zurück machen: Scham ist nichts Krankhaftes. Sie gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu. Damit ein Kind sich schämen kann, muss es kognitiv soweit reif sein, dass es ein Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit hat. Gleichzeitig muss es die Fähigkeit besitzen, sich selbst aus der Perspektive der anderen zu sehen. Erst dann kann es sich überhaupt bewusst werden, dass andere auch kritisch über es denken können.
Die übermäßig kritische Selbstbeobachtung kann durch ein Trauma entstehen, durch fehlende Achtung der kindlichen Würde, durch Verspotten, durch Erlebnisse die den Selbstwert verletzen, durch immer wiederkehrende unterschwellige Abwertungen, durch wiederholtes Drohen wie: „Die anderen werden dich auslachen“ oder direkte Appelle wie: „Schäm dich!“
Ich nehme an, dass sich aus solchen Situationen weitere psychische Schwierigkeiten entwickeln können. Stecken eigentlich Beschämungserfahrungen hinter sozialen Ängsten bei Kindern?
Soziale Ängste werden durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren begünstigt. Es gibt also nicht den einen Auslöser. Von Natur aus eher feinfühlige, ängstliche oder verletzliche und schüchterne Menschen sind bestimmt anfälliger dafür. Aber auch diese genetische Disposition ist als Erklärung allein nicht ausreichend. So spielen oft Erfahrungen von Kränkung, Blamage, Frustration oder Demütigung eine wesentliche Rolle für die Entwicklung eines krankheitswertigen Problems.
Wichtig für Kinder sind gute Vorbilder und RatgeberInnen zu Fragen wie: „Wie kann ich Freunde gewinnen?“, “Wie geht Small Talk?“, „Wie kann ich mich in einer Gruppe interessant machen?“, „Wie wehre ich mich?“ …
Gibt es ein Märchen oder eine Geschichte, die das Thema Scham Ihrer Meinung nach besonders gut aufgreift, und die Sie in Ihrer Praxis Ihren kleinen und großen Klienten mit an die Hand geben?
Es gibt Figuren, die viel mit Beschämung arbeiten. So zum Beispiel Fräulein Rottenmeier in „Heidi“. Mir persönlich gefällt besonders gut das Bilderbuch „Was ist bloß mit Gisbert los?“ von Jochen Weeber und Fariba Gholizadeh. Hier wird dargestellt, wie häufige Kränkungen und andauernde seelische Verletzungen den Selbstwert erschüttern können. Gisbert ist ein glücklicher Giraffenjunge, der gerne mit seinen Freunden spielt. Doch als zwei Hyänen über seine braunen Flecken tuscheln, er in der Musikschule ausgelacht wird und jemand „Langer Lulatsch!“ hinter ihm herruft, da wird er immer kleiner. Irgendwann verliert er sogar sein Lachen und wird krank …
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Die Fachtagung von pro mente Wien “beschämt&SCHAM” findet am 16.01.2020 statt. Infos und Programm finden Sie hier.