In über 50 Büchern hat Verena Kast den Menschen bereits ihre Gefühle erklärt. Im Gespräch erzählt die Schweizer Analytikerin nach C.G. Jung über falsche und echte Freude, den Ärger, der uns vorwärts bringt, und warum wir alles haben, was wir zum Leben brauchen.
Frau Kast, in Ihren Büchern erklären Sie Ihren LeserInnen ihre Gefühle. Mir fällt, auf, dass Sie sich dabei besonders oft mit zwei Gefühlen befassen: der Freude und dem Ärger – warum?
Verena Kast: Angefangen habe ich eigentlich mit der Trauer. Und ich habe mich auch sehr intensiv mit der Angst beschäftigt. Aber sie haben schon Recht, dass diese beiden Emotionen, Freude und Ärger, im mitmenschlichen Zusammensein eine besondere Rolle spielen. Im Kontakt mit anderen kommt man nicht darum herum, mit seinem Ärger umgehen zu lernen. Und Freude finde ich deshalb so wichtig, da sie eine komplett unterschätzte Emotion ist. Wir Menschen freuen uns eigentlich viel zu wenig, zumindest wir Erwachsenen. Kinder können das meistens noch recht gut, sie strahlen einen oft so richtig herzlich an. Ich habe mich vor unserem Gespräch ein bisschen in den Gassen umgeschaut: Die Touristen strahlen, die Einheimischen strahlen überhaupt nicht. Die Wiener machen Gesichter, als ob sie einen fast auffressen wollten! Natürlich lange nicht alle, aber doch so einige, oder? Dabei gibt es mittlerweile neurowissenschaftliche Forschungen, die belegen, dass wir das Bindungshormon bzw. den Neurotransmitter Oxytocin ausschütten, wenn wir von einem anderen Menschen freundlich angeschaut werden. Ein freundlicher Blick heißt eigentlich immer: Ich nehme dich wahr. Das ist eine Wertschätzung, die einem ein gutes Gefühl gibt. Früher dachte man, dass die Oxytocinausschüttung nur mit der Geburt oder dem Sex zu hat; heute weiß man, dass es dabei auch wesentlich ums Streicheln und um Freundlichkeit geht. Man hat außerdem festgestellt, dass das Oxytocin bewirkt, dass wir friedlicher werden und weniger Stress haben.
Ein freundlicher Blick heißt eigentlich immer: Ich nehme dich wahr. Das ist eine Wertschätzung.
Jedes Mal, wenn ich beim Kiosk vorbeigehe, lachen mir aber mindestens 20 „glückliche“ Frauen von Magazinen entgegen. Das passt doch gar nicht zu dem, wie Sie die WienerInnen beschreiben …
Da sprechen Sie ein ganz großes Problem an, das wir heute mit der Freude haben. Sie taucht nämlich an vielen Orten auf, wo sie eigentlich gar nicht vorhanden ist. Heutzutage muss man gut aufgestellt und gut drauf sein, was so viel bedeutet wie: Ich freue mich ständig; dabei ist das oft emotional überhaupt nicht gedeckt. Ich treffe durchaus freudige Menschen, aber viele benutzen das einfach wie ein Vokabel, eine Worthülse. Im Sport sieht man den Gebrauch dieser Worthülse besonders gut. Jeder Fußballer, der vor einem Spiel interviewt wird, verkündet groß: Ich freue mich unheimlich auf das Match. Aber kommen wir zurück zur echten Freude. In der Freude sind wir einverstanden mit uns, mit den anderen, dem Leben, der Welt. Wir haben mehr bekommen als erwartet. Freude ist die Emotion, die auch Solidarität bewirkt. Wenn wir uns miteinander freuen, können wir miteinander etwas bewirken. In solchen Momenten verbrüdern und verschwestern wir uns ganz leicht. In der Freude sind wir auch noch nicht so neidisch, das kommt erst hinterher.
Führt der Weg in Richtung einer solidarischen Gesellschaft also über die Freude?
Wir müssten zuerst auch freundlicher miteinander umgehen. In der Freude schauen wir einander freundlich an. Sartre hat eine ganz wunderbare Geschichte des Angeblicktwerdens verfasst. [„Der Blick“ in: Das Sein und das Nichts, Anm.]. Er beschreibt darin den beschämenden Blick der Großeltern, der immer im Raum ist, sogar wenn diese nicht anwesend sind. Unter diesem Blick zerbröselt man. Ist das nicht auch der Blick, den wir einander oft zuwerfen: Du solltest dich eigentlich schämen. Das zerbröselt den Selbstwert und tötet die Freude. Der Philosoph Emmanuel Lévinas hat jedoch eine Antwort auf Sartre geschrieben: Ja, das stimmt, aber die Mitmenschen haben nicht nur diesen kritischen, zerstörerischen Blick, sondern eben auch den freundlichen Blick. Dessen sollten wir uns im Alltag mehr bewusst sein.
Wir müssten freundlicher miteinander umgehen. In der Freude schauen wir einander freundlich an.
Mit der Freude beschäftigt man sich gerne, beim Ärger sieht es anders aus. Die meisten Menschen hätten gerne weniger Ärger. Macht es denn Sinn, sich zu ärgern?
Die Tiefenpsychologie sagt Ihnen: Wer sich ärgert, glaubt noch daran, dass man die Welt verändern kann. Ärger zeigt uns, dass Menschen über unsere Grenzen gehen, oder dass wir unsere Grenzen nicht erweitern dürfen. Menschen dürfen uns aber weder in unserer Integrität angreifen noch an unserer Entwicklung hindern. In unserer beschleunigten Zeit möchte man natürlich unangenehme Gefühle wie den Ärger möglichst rasch wieder loswerden, indem man sich zum Beispiel abreagiert. Das kann manchmal sehr gut tun, ist aber als einzige Strategie zu wenig! Bereits den kleinen Kindern wird gesagt: Schlag auf den Polster – das ist praktisch und geht schnell. Mit einem Kind den Ärger wirklich zu regulieren, das ist eine zeitintensive Herausforderung. Als gute Mutter macht man das schon beim ganz kleinen Baby, indem sie das kindliche Gefühl zuerst bestätigt: Du ärgerst dich jetzt. Was könnte es denn sein, das dich im Moment so ärgert? Ärgert es dich vielleicht, dass ich dir etwas weggenommen habe? Ja, das kann ich verstehen. Das ganze sagt sie mit einer ruhigen Stimme und streichelt das Kind dabei. Diese Emotionsregulation im Gespräch hat das Ziel, dass das Kind seine Gefühle, aber auch die Gefühle anderer später selber erkennen und damit umgehen kann. Das macht eigentlich auch eine gute Bindung aus.
Was raten Sie Menschen, die in einer beruflich oder privat unbefriedigenden Situation stecken und auch durch noch so viel Ärger nichts daran verändern können, ja vielleicht daran verzweifeln und depressiv werden?
Da muss man schon hinzufügen, dass der Ärger alleine nicht reicht, um Veränderung zu bewirken. Man sieht das ganz deutlich an den Wutbürgern. Wer nur wütend ist, verändert nicht viel. Das ganze muss an eine positive Vision gekoppelt sein. Allerdings geben wir den Menschen in der Therapie keine Ratschläge. Wir reden mit ihnen, bis sie selber wissen, was sie machen müssen. Und wenn eine Therapie einigermaßen greift, merken die Menschen, dass sie sich immer auch da, wo sie sind, zu den Umständen verhalten können. Nehmen wir z.B. die Situation, dass jemand in seinem Beruf unzufrieden ist. Dann gibt es Menschen, die für sich selbst herausfinden: Okay, das ist der Ort, an dem ich mein Geld verdiene. Hier bleibe ich, denn dieser Ort ermöglicht mir dieses oder jenes. Ich werde aber von diesem Ort nicht verlangen, dass ich mich hier selbst verwirkliche. Es gibt aber auch die gegenteilige Situation, dass sich ein Mensch sagt: Nein, hier kann ich nicht leben, da verkümmere ich. Daran schließt sich die Frage an: Wo kann ich denn etwas Sinnvolles machen? Dieser Weg ist oft mit sehr viel Mühsal verbunden, weil ich vielleicht noch einmal eine neue Ausbildung beginnen oder an einen anderen Ort gehen muss. Es gibt auch Akademikerinnen, die Blumen zu binden beginnen! Ich erinnere mich an eine Mittelschullehrerin, die sagte: Mir sind die Kinder viel zu anspruchsvoll und mit den Eltern komme ich schon gar nicht klar. Aus Spaß meinte sie dann einmal: Ich würde eigentlich gerne mit Blumen arbeiten, die widersprechen nicht. Und diese Frau hat sich dann tatsächlich eine Zeit lang mit Blumen beschäftigt. Die heutige Generation wechselt häufig sehr oft den Beruf. Darin liegt finde ich auch eine Chance. Zu meiner Generation hätte man da noch ängstlich gesagt: Oh nein, Mittelschullehrerin, pensionsberechtigt, usw., wie kann sie nur diese gute Stelle aufgeben! Aber vielleicht muss man die Stelle heute gar nicht mehr unbedingt aufgeben; man kann sich vielleicht auch einfach eine Auszeit nehmen, ein Jahr lang etwas Anderes machen und dann möglicherweise wieder zurückkommen.
Wer nur wütend ist, verändert nicht viel. Das ganze muss an eine positive Vision gekoppelt sein.
Ich habe den Eindruck, dass nicht alle Menschen gleich ihren Beruf wechseln möchten, sondern z.B. einfach von der Last der Überstunden erdrückt werden. Viele junge Leute würden sich auch neue Modelle der Elternteilzeit wünschen, um gut Zeit für Beruf und Familie zu haben – in der Politik werden derartige Vorstöße jedoch immer recht schnell vom Tisch gewischt …
Ich fände die 20 Stunden pro Woche sehr gut, denn alles auf der Welt wäre besser, wenn wir bessere Beziehungen hätten. Aber um bessere Beziehungen zu haben, bräuchten wir natürlich mehr Zeit füreinander. Es müsste außerdem klar sein, dass gute Beziehungen ein gesellschaftlicher Wert sind. Eine derartige Einstellung würde auch unsere Ängste minimieren, denn Angst ist eigentlich antagonistisch zu: Ich habe einen anderen Menschen. Wir hätten mehr gute Bindungsgefühle und würden uns geborgener fühlen. Damit sind wir auch wieder beim Oxytocin gelandet, das uns letztlich friedlicher macht. Mir würde ein Modell von 20 Stunden Lohnarbeit, 10 Stunden Beziehungsarbeit für Alte, also soziale Arbeit, und darüber hinaus einfach noch so viel Arbeit, wie man möchte, für sich selber gut gefallen! Die Frage ist wohl, wie können wir das bezahlen? Ihr scheint einen sehr starken Sozialstaat in Österreich zu haben. Deutschland ebenfalls. Diese Herausforderung muss leider wirklich die Politik lösen.
Ein Schlusswort an die LeserInnen von der „Gefühlslehrerin“ Verena Kast?
Es wäre vor allem wichtig den Leuten klarzumachen: Wir haben alles, was wir brauchen zum Leben. Die Zeitungen schreiben zwar recht gerne, wir hätten keine Orientierung, aber wir haben unsere Gefühle und unsere Gefühle sind unsere Orientierung. Angst heißt: Pass auf, du bist in Gefahr, Freude heißt: Lehn dich zurück, es ist alles in Ordnung, Neid heißt: Hey, ich wär‘ gern eine andere. Wenn wir unsere Gefühle finden und wahrnehmen, haben wir immer Orientierung.
Ich wandle gerne einen Spruch von Ingeborg Bachmann ab und sage: Das Leben ist den Menschen zumutbar. Natürlich sind wir zerbrechlich, wir sterben, es geht alles Mögliche kaputt, aber wir sind auch robust.