Genuss beschreibt mehr als den Verzehr von gutem Essen und kann bereits durch scheinbare Alltagsbanalitäten entstehen. Doch wie genießen wir richtig und fortwährend? Und welchen Einfluss nehmen Genussmomente auf die psychische Gesundheit?
Ein zartschmelzendes Stück Schokolade auf der Zunge, ein wonnevoller Blick auf die Weiten des Meeres oder einfach ein stiller Moment auf dem Sofa mit einem fesselnden Buch in der Hand. Was all diese Situationen miteinander gemeinsam haben? Wir genießen sie in vollen Zügen – oder versuchen es zumindest. Denn im hektischen Alltag zwischen zahlreichen Verpflichtungen und Terminen bleibt nur wenig Zeit, besondere Augenblicke in vollen Zügen zu genießen. Aber warum ist es so wichtig, Genuss überhaupt bewusst wahrzunehmen?
Selbstkontrolle vs. genussvolle Hingabe
In der heutigen Zeit besteht die Auffassung, dass Selbstkontrolle und Disziplin für ein erfüllendes und zufriedenes Leben sowie für das Erreichen von persönlichen Zielen vonnöten sind. Ein kurzfristig schönes, glückliches und genussvolles Vergnügen wird also gegenüber der Fähigkeit, Dinge kontrolliert und beherrscht zu vollrichten, nachrangig behandelt, weil eben nur die eigene Selbstbeherrschung dazu verhilft, auf lange Sicht zufrieden zu sein. Untersuchungen widersprechen nun dieser gängigen Annahme: Es hat sich herausgestellt, dass ganz bewusste Genussmomente bzw. die Fähigkeit, sich dem Genuss hingeben zu können, eben nicht nur vorübergehend das allgemeine Wohlbefinden positiv beeinflussen, sondern Genussmenschen im Generellen eine höhere Lebenszufriedenheit aufweisen. Damit sinkt gleichzeitig das Risiko, psychische Erkrankungen zu entwickeln und insbesondere an Angst- oder Depressionssymptomen zu leiden.1 Doch was genau passiert beim Genießen im Detail?
Genuss als Teil der positiven Psychologie
Das Genießen an sich spielt im Bereich der Positiven Psychologie – die Wissenschaft des empirisch nachweisbaren zufriedenen und gelingenden Lebens –2 eine wesentliche Rolle, und zwar als Emotion: Es geht dabei um das ganz bewusste Wahrnehmen, Empfinden und Auskosten von positiven Gefühlen.3 So blicken wir nicht einfach nur auf das Meer, sondern riechen die salzige Luft, hören das Rauschen der Wellen und sehen das Glitzern des Wassers – wir bedienen uns dabei also all unserer Sinne und richten die Aufmerksamkeit zur Gänze auf diesen einen wahrnehmbaren Moment ohne anderweitige Ablenkung. Und auch das ist wesentlich für den Genuss-in-vollen-Zügen, denn denkt man währenddessen an Tätigkeiten oder Aktivitäten, die noch ausgeführt werden müssen, entfalten die positiven Genuss-Emotionen nicht die volle Wirkung.4
Achtsamkeit für vollendeten Genuss
Somit lautet ein wichtiger Aspekt der Genussformel gemäß der deutschen Psychologin Renate Frank wie folgt: „Die Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick sollte erfolgen, ohne dass mehrere Dinge gleichzeitig getan werden. Und auch ohne dass spontane Bewertungen stattfinden“5. Das Einnehmen einer neutralen Beobachterperspektive führe laut Frank dabei zu einer Gelassenheit, die das Wohlbefinden positiv beeinflusse. Und ein begleitender Faktor davon – je aufmerksamer genossen werde, desto intensiver sei nicht nur das Erleben an sich, sondern auch die spätere Erinnerung an diesen Augenblick.6 Im Fokus des Genießens steht also die Achtsamkeit – das Konzentrieren und bewusste Lenken der Wahrnehmung auf die Situation bzw. die Tätigkeit ohne eine wertende Haltung einzunehmen. So kann ein Wohlfühlmoment entstehen, der zum einen für Entspannung sorgt und zum anderen (unbewusste) psychische Belastungen reduziert.7
Alle Sinne einbinden
Damit tatsächlich alle Facetten eines genussvollen Momentes wahrgenommen werden können, müssen wie bereits erwähnt so viele Sinne wie möglich aktiviert werden. Zwar werden diese täglich gefordert, um ein relativ genaues Abbild der Umgebung zu erstellen, jedoch handelt es sich um einen „Irrtum zu glauben, dass wir unsere Sinne ‚haben‘ und sie einfach so funktionieren“8, so der auf Genuss spezialisierte deutsche Psychologe und Therapeut Rainer Lutz. Sie würden uns zwar jederzeit zur Verfügung stehen, aber sie „verkümmern, wenn wir sie nicht regelmäßig nutzen“9, wie sein Appell lautet. Intensive Wahrnehmungen schulen demnach die Sinne bzw. Sinnesrezeptoren.10
Ressourcenaufbau, -verbesserung und -stärkung
Das hingebungsvolle Genießen mit allen Sinnen steigert aber nicht nur das Wohlbefinden mit gleichzeitig einhergehender Stressreduktion und aktiviert die Sinneswahrnehmung, sondern fördert gemäß wissenschaftlichen Untersuchungen auch den Aufbau von individuellen Ressourcen: Forscher:innen fanden heraus, dass genüssliche Augenblicke voller Achtsamkeit die persönliche Resilienz steigern, daneben die Problemlösungsfähigkeit genauso wie die eigene Kreativität ausgebaut werden.11
Bitte mit Vorsicht genießen
Weil die positive Wirkung des intensiven Genießens unmittelbar wahrnehmbar ist, kann der Drang entstehen, entsprechende Wohlfühlmomente ständig und immerzu herbeiführen zu wollen. Doch hier ist Vorsicht geboten, denn „bei einem Zuviel ist Genuss kaum noch möglich“12: Beispielsweise führen der dauerhafte Verzehr des Lieblingsessens oder das Hören derselben Musik genauso wie der über einen sehr langen Zeitraum gerichtete Blick auf das Meer dazu, dass eine ‚Sättigung‘ entsteht. Denn wie bereits erwähnt stumpfen die Sinne ab, wenn sie immer auf dieselbe Art und Weise beansprucht werden. Und dies hat zur Folge, dass der Genusslevel stetig steigt, immer mehr notwendig ist, um tatsächlich ausgiebig zu genießen. Deswegen setzt Genuss auch ein gewisses Maß an Enthaltsamkeit voraus, denn so kann Vorfreude entstehen, die unmittelbar mit dem Genießen zusammenhängt: Freuen wir uns darauf, nach langer Zeit endlich wieder eine köstliche Speise essen zu dürfen, bleibt diese etwas Besonderes, Genussvolles. Das Hinauszögern einer Bedürfnisbefriedigung bzw. das bewusste Beschränken von Genussmomenten ebenso wie wechselnde Sinneserlebnisse führen somit zu einem umso intensiveren Erlebnis, während ein fortwährendes ‚Nachjagen‘ eher Unzufriedenheit auslösen kann.13
Doch wie können wechselnde Genussfaktoren in den Alltag integriert werden?
Um so oft wie möglich zu genießen, die Sinne dahin gehend wieder zu schärfen, aber um eine Sättigung zu vermeiden, empfiehlt sich also vor allem das Erleben von wechselnden Genussmomenten. Im Alltag fällt es jedoch schwer, sich diese besonderen Situationen zwischen all den vielen Verpflichtungen zu gönnen und Pausen einzubauen. Genuss beginnt jedoch schon bei Tätigkeiten und Aktivitäten, die einem persönlich guttun und die gerne ausgeführt werden, angefangen beim Kochen oder Backen über sportliche Betätigung und die anschließende wohltuende Erschöpfung bis hin zum bewussten Wahrnehmen von Regentropfen am Fenster oder Sonnenstrahlen auf der Haut. Im Vordergrund steht hier sodann, sich auf das jeweilige Element, welches Genuss bereiten soll, zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen, um auch einen gewissen Entspannungszustand herbeizuführen. So wird das Erleben nachhaltig verstärkt und intensiviert.14
Es gibt unzählig viele Arten, Hobbys sowie seltene genauso wie liebgewonnene Augenblicke so weit auszukosten und alle Sinne so intensiv wie möglich daran zu beteiligen, dass tatsächlich ein Genusserlebnis einsetzt. Wichtig ist dabei, allem mit Achtsamkeit zu begegnen und Abwechslung zu schaffen. Und übt man sich weiters in Enthaltsamkeit, steigert dies nur die Vorfreude auf den Genuss, der schlussendlich noch intensiver wahrgenommen wird und damit das allgemeine Wohlbefinden nachhaltig positiv beeinflusst.
Dieser Artikel erschien am 24. August 2022 bei pro mente Steiermark auf: https://www.promentesteiermark.at/blog/genussvoll-geniesen/
1 Vgl. red / APA: Vergnügen und kurzfristiger Genuss sind mindestens ebenso wichtig wie Selbstkontrolle. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 31.07.2020.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000119065247/vergnuegen-und-kurzfristiger-genuss-sind-mindestensebenso-wichtig-wie-selbstkontrolle [Stand: 12.07.2022].
2 Vgl. Brohm-Badry, Michaela / Berend, Benjamin: Positive Psychologie: Grundlagen, Geschichte, Elemente, Zukunft. In: uni-trier.de. Veröffentlicht im November 2017.
URL: https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PAD/BW2/Berend/Grundlagen_Positive_Psychologie_01.pdf [Stand: 12.07.2022].
3 NLP – Zentrum Berlin: Die Facetten des Genusses. In: nlp-zentrum-berlin.de.
URL: https://nlp-zentrum-berlin.de/infothek/nlp-psychologie-blog/item/genuss-positive-psychologie [Stand: 12.07.2022].
4 Vgl. red / APA: Vergnügen und kurzfristiger Genuss sind mindestens ebenso wichtig wie Selbstkontrolle.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000119065247/vergnuegen-und-kurzfristiger-genuss-sind-mindestensebenso-wichtig-wie-selbstkontrolle [Stand: 12.07.2022].
5 Weidt, Birgit: Dieser Genuss! In: psychologie-heute.de. Veröffentlicht am 09.01.2019.
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].
6 Vgl. Weidt, Birgit: Dieser Genuss!
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].
7 Lesen Sie mehr zum Thema Achtsamkeit in unserem Blogbeitrag Achtsamkeit – Den Alltag bewusst erleben »» vom 28.04.2021.
8 Weidt, Birgit: Dieser Genuss!
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].
9 Weidt, Birgit: Dieser Genuss!
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].
10 Vgl. NLP – Zentrum Berlin: Die Facetten des Genusses.
URL: https://nlp-zentrum-berlin.de/infothek/nlp-psychologie-blog/item/genuss-positive-psychologie [Stand: 12.07.2022].
11 Vgl. NLP – Zentrum Berlin: Die Facetten des Genusses.
URL: https://nlp-zentrum-berlin.de/infothek/nlp-psychologie-blog/item/genuss-positive-psychologie [Stand: 12.07.2022].
12 Weidt, Birgit: Dieser Genuss!
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].
13 Vgl. Weidt, Birgit: Dieser Genuss!
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].
14 Vgl. Handler, Beate: Genusstraining – Euthyme Verfahren – Ein Leben mit allen Sinnen. In: Psychologie in Österreich 1/2009, S. 75 f.
URL: http://www.genusstraining.at/bilder/PSY_01_09.pdf [Stand: 12.07.2022] und
vgl. Weidt, Birgit: Dieser Genuss!
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/39734-dieser-genuss.html [Stand: 12.07.2022].